Unser Ziel ist es, eine funktionierende Selbstorganisation im Team zu etablieren. Vor kurzem haben wir unsere Organisationform hinterfragt und mittels der Soziokratie unserem Ziel entsprechend angepasst. Die dabei gemachten Erfahrungen, möchte ich an dieser Stelle gerne teilen.

Vor etwas 2 Jahren haben wir eine vollfunktionale Unit gegründet, die sich dem Thema Privatkredit widmet und vom Vertrieb, über die Produktentwicklung bis zum eigenem Betrieb reicht. Dazu haben wir Kollegen aus 2 agile Entwicklungsteams zusammengebracht und das Key Accounting integriert. Es folgte noch weiterer Zuwachs durch Entwickler und Business Analysten, so dass wir mittlerweile rund 20 Kollegen sind.

:( Kreise, Kreise, Kreise

Schon zu Beginn haben wir auf Verteilte Verantwortung mittels soziokratischen Mitteln gesetzt. Aus Unerfahrenheit haben wir vor allem Kreise nach Kompetenzen geschnitten. So gab es ein Frontend-Kreis, ein Backend-Kreis, ein Security-Kreis, ein Berichtswesen-Kreis usw. Wir hatten fast so viele Kreise wie Kollegen. Auch die Kreise selbst lebten nicht so wie gewünscht. Einige waren schlicht nicht mehr aktiv, andere nur von einer Person besetzt und wiederum andere gleich mit allen Entwicklern besetzt. Wurden Entscheidungen im kleinen Rahmen diskutiert, so geschah dies meist inoffiziell und die Ergebnisse wurden auch nicht transparent für den restlichen Kreis oder Externe gemacht. Diese Struktur fühlte sich einfach nicht richtig an. Da wir zudem keine regelmäßige Governance durchführten, haben wir auch nie aufgeräumt.

:( Integrative Decision Making (IDM)

Außerhalb der Unit wurde in einigen Bereichen auf Holakratie gesetzt und so hielt der holakratische Konsent-Prozess IDM Einzug bei uns. Kreisübergreifende Entscheidungen wurden per IDM meist vom gesamten Team entschieden. Zumindest ermöglichte uns dieses Vorgehen in kleinen Schritten auch mal Experimente zu wagen. Problematisch war nur, dass Einwände anhand des Holokoratie-Einwandskatalogs behandelt wurden und diese stellten sich immer als Befürchtungen heraus. Wirklich hinderlich am Ausprobieren ist ja nichts, auch wenn sich Entscheidungen deutlich außerhalb der Wohlfühlzone einzelner Kollegen befinden. So konnte quasi jedes Proposal (Änderungsvorschlag) verabschiedet werden. Zurück blieb oft das Gefühl nicht integriert worden zu sein.

:( Unit-Runden

Mit zunehmender Teamgröße ließen sich auf Unit-Ebene Methoden wie Standups, Retrospektiven und Entscheidungsrunden immer schwerer umsetzen. Immer mehr Leute haben an immer mehr kreisübergreifenden Entscheidungen teilgenommen und zu wurden die Terminkalender zunehmend voller. Auf Bedenken wurde in Entscheidungsrunden oft nicht ausreichend eingegangen. Diese Runden waren zu groß, zäh und langwierig.

:( Nur ein Organisationsentwickler

Ein weiteres Problem war, dass das Thema der Organisationsentwicklung vornehmlich von nur einer Person getrieben wurde. Diese sammelte viel theoretisches Wissen und gab dies ins Team. Jedoch war es schwer, sich mit diesen Ideen zu identifizieren, da die restlichen Kollegen noch gedanklich einige Meta-Ebenen zurücklagen. Auch mangelte es noch an Erfahrung im praktischen Umgang mit den Prozessen. Diese musste erst noch gesammelt werden.

Die Unzufriedenheit in der Unit wuchs.

:| Ein Soziokratie 3.0 Workshop

Im ersten Schritt kümmerten wir uns also darum, dem gesamten Team ein besseres Verständnis für die hinter der Kreisorganisation stehenden Prinzipien zu vermitteln. Dazu wurde ein Workshop zu Soziokratie 3.0 durchgeführt. Die Hoffnungen und Erwartungen waren hoch und so blieb der erwartete Outcome einer nun perfekt funktionieren Kreisstruktur aus, zumindest erhielt das gesamte Team aber eine bessere Vorstellung, in welche Richtung es im Rahmen der Selbstorganisation mit der Unit gehen will.

Aus dem Workshop kamen bereits einige Möglichkeiten für zukünftige Kreisstrukturen heraus, sowie etwas Erfahrung mit Prozessen wie dem Driver-Mapping, Proposal-Forming und Consent Decision Making. Letztes ist vergleichbar mit IDM aus der Holokratie, geht jedoch nach unserem Verständnis mehr auf den Menschen und seine Bedenken ein und wirkt auf uns integrierender.

:) Selbstversuch und -erleben

Mit dem Wissen und der Energie aus diesem Workshop bildete sich nun eine Gruppe aus 4 Personen (+ begleitend einem Agile-Coach). Dies war der DDIS-Kreis (Deeper Dive Into Sociocracy). Wir machten es uns zur Aufgabe, ein noch besseres Verständnis von Soziokratie, deren Methoden und jeweiligen Prozesse zu erhalten und damit für ein effizienteres Arbeiten innerhalb unserer Unit zu sorgen.

Zunächst lasen wir diverses Infomaterial unterschiedlicher Quellen durch und diskutierten die Erkenntnisse für ein einheitliches Verständnis. Besonders hilfreich war das Material von Sociocracy For All und Sociocracy 3.0. Wir setzten auch gleich einige der Methoden innerhalb des DDIS-Kreises um, um ein besseres Gespür für den praktischen Einsatz und deren Möglichkeiten im Team zu erhalten. Dieses Ausprobieren soziokratischer Werkzeuge war ungemein inspirierend.

In diesem Rahmen haben wir die Rollen auf Zeit wie Circle Coordinator, Secretary und Facilitator für uns definiert und Kreismitglieder dafür gewählt. Es wurde jedoch nicht nach Freiwilligen gefragt, sondern jeder nominierte Kollegen und begründete, warum diese Person gut geeignet für die jeweilige Rolle sei. Selbstnominierungen sind auch erlaubt. Einerseits hatte dies eine sehr wertschätzende Wirkung. Es können (und wurden) Personen in eine Rolle gewählt werden, die sich dessen Übernahme aufgrund der Selbstwahrnehmung nicht zutrauen, nun aber durch positives Feedback aus der Fremdwahrnehmung bestärkt sind. Die Besetzung der Rolle wird zudem zeitlich begrenzt, so dass durchaus auch ein Wechsel stattfinden kann. Die letztendliche Wahl wurde als Proposal vorgetragen und per Konsent entschieden. Es ging also nicht wie beim Konsens darum die perfekte Person für die Rolle zu finden, sondern eine Person, bei der jedes Kreismitglied keinen schwerwiegenden Einwand hat. Sowohl in den Köpfen der Teilnehmer als auch in der Praxis ist dies ein deutlich spürbarer Unterschied.

:) Runden - “Ja, und…” statt “Ja, aber…”

Die Rollendefinition, die Nominierung und die Konsent-Entscheidung wurde in Runden durchgeführt. Es gab also eine feste Reihenfolge, wann jeder sprechen durfte (Verständnisfragen ausgenommen). Dies führte zu einer fokussierten Diskussionsrunde. Insgesamt bemerkten wir dabei auch eine mehr konstruktive Arbeitsweise. Sätze starteten eher mit “Ja, und…” statt mit “Ja, aber…”. Auch die Definition von Treiber und Domäne für den Kreis sowie die Auswertung des Infomaterials wurden in Runden ausprobiert. Dieser Prozess war anfangs noch etwas gewöhnungsbedürftig und es bedurfte einiger Routine bzw. Moderation, diese Runden auch wirklich einzuhalten. Gefühlt stieg die Produktivität aber in vielen Fällen.

Eine weitere Erkenntnis ergab sich aus dem konkreten Definieren von Rollen, Treibern und Domänen. Die konkrete Benennung half uns besser die eigentlichen Aufgaben und Intention zu versehen. Wir schufen somit eine bessere Transparenz und ein einheitliches Verständnis.

:) Gemeinsames Glossar

Parallel zu diesen Prozessen verfassten wir ein Glossar, in dem wir Begrifflichkeiten und Erkenntnisse zusammengefasst und auf unser Team gemünzt bzw. übersetzt haben. Dieses dient als Grundlage für den späteren Wissensaustausch mit Kollegen sowie der Schaffung von Transparenz.

Insgesamt war diese Phase des Selbsterlebens und -lernens ein sehr wichtiger Schritt für unser Verständnis der Soziokratie und ihrer Werkzeuge. Wir spürten regelrecht, welche positiven Auswirkungen und auch Grenzen diese Methoden mit sich brachten.

:) Austausch mit Soziokratie-Experten

Eine wichtige Hilfe war zudem unser Erfahrungsaustausch und Q&A mit der Soziokratie-Expertin Jennifer Rau. Mit ihr konnten wir viele Dinge besser hinterfragen und profitierten stark von ihrer erfahrenen Sicht von außen. Besonders wertvoll waren die sehr pragmatischen Vorschläge zu Vorgehensweisen ihrerseits.

:) Schritt für Schritt

Im nächsten Schritt arbeitete der DDIS-Kreis an der Gestaltung der Selbstorganisation innerhalb unserer Unit. Konkret wollten wir ein Vorschlag für eine Kreisstruktur, eine Anleitung, wie Methoden und Elemente der Soziokratie gelebt werden, eine Best-Practice Sammlung sowie konkrete nächste Schritte um eine lebendige Kreisorganisation zu schaffen.

Bei der Findung einer passenden Kreisstruktur pendelten wir zwischen der grünen Wiese (alles neu) und dem aktuellen Stand (alles unverändert). Auch diese Diskussionen wurden wieder in Runden geführt. Am Ende gelangten wir zu einer angepassten Version der aktuellen Kreisstruktur. Wir wollten möglichst wenig Änderung und somit Verunsicherung bei den Kollegen erzeugen. So langsam hatten wir ein gutes Verständnis für die Unterscheidung von Kreisen, Rollen und täglichen Arbeitsaufgaben. Somit war ein Teil der Änderung, einige der vorhandenen Kreise aufzulösen, die aus unserer Sicht als Kreis nicht sinnvoll waren. Mit diesem Wissen gingen wir auf die Mitglieder der potentiell wegfallenden Kreise zu und versuchten zu ermitteln, inwiefern dieser Kreis als solcher bestehen bleiben sollte. So gingen Kreise häufig in eine Rolle über oder wir stellten fest, dass dort eigentlich nur zur täglichen Arbeit zählende operative Aufgaben durchgeführt wurden.

Für unser Verständnis dienen Kreise in der Soziokratie vor allem der Organisation und dem Entscheiden. Wenn jemand nicht entscheiden möchte und dennoch in der Domäne operativ arbeitet, muss er nicht unbedingt Teil des Kreises sein.

Wir erarbeiteten eine geringfügig angepasste Kreisstruktur und erwarteten eigentlich keine Einwände. Die Änderung wurden ja bereits mit den betroffenen Personen abgesprochen. In unserer vorherigen Kreisstruktur waren die 20 Kreisen alle auf einer Ebene. Dies macht es jedoch schwerer, kreisübergreifende Entscheidungen zu treffen. Wo werden diese adressiert? Eigentlich ja im darüber liegenden Kreis, was aber hier alle Kreise bedeutet hat. Somit fügten wir eine Hierarchie hinzu und etablierten noch einige Delegiertenkreise zur Koordination von Unterkreisen. Wir verblieben mit einer Kreisstruktur bestehend aus 9 Kreisen plus 3 Delegiertenkreise. In dieser Struktur zeigt sich auf oberster Ebene der General Circle (GC). Den DDIS-Kreis erkannten wir zudem als ein Helping-Circle, der die Organisation mit vorantreiben soll.

:) Aufgaben delegieren

Wichtig war uns, dass diese Struktur nicht in Stein gemeißelt ist. Wir als DDIS-Kreis können nicht die Domänen und Treiber und somit die Abgrenzung der Kreise vornehmen. Diese Aufgabe wollten wir in den General Circle mitgeben, der diese wiederum, wenn nötig in die Unterkreise weiterreicht. Dafür war im ersten Schritt noch wichtig, dass jeder Kreis einen Circle Coordinator (CC) hat. Der Wahlprozess geschah von den untersten Kreisen ausgehend (bottom-up). Der DDIS-Kreis soll dabei die CC-Wahlen und die im Anschluss stattfindenden Driver-Mappings unterstützen. In diesem Rahmen konnten wir auch gleich unser Wissen ins Team weitergeben.

:) Zack feddig

Unser Proposal zu Revitalisierung der Kreisstruktur in unserer Privatkredit Unit wurde angenommen und versprühte viel Energie und Interesse an der Gestaltung der Organisation. Die Aufgabe des GC werden sukzessive angegangen und vom DDIS-Kreis unterstützt. Das Ziel sich von “alle entscheiden alles” zu lösen haben wir geschafft. Nun gilt es, da weiter zu machen und mehr Erfahrungen zu sammeln.

Ich halte euch auf dem Laufenden, wie es weiter geht ;)