…oder die Erfindung des Push/Pull-Prinzips

Seit 3,5 Monaten bin ich nun als vollzeit/festangestellter Agile Coach in Berlin unterwegs. Für mich ist das ein toller Job und die Firmenkultur tut ihr übriges dazu. Der Wechsel vom Berater und selbstständigem Coach zu diesem Job hat Änderungen mit sich gebracht, die ich so auch wollte, in ihrer Wirkung aber unterschätzt hatte.

Vorher mal kurz ein paar Worte zu meinem Selbstverständnis als (Agile) Coach. Ich überzeuge Leute nicht, dass sie mich brauchen. Sie kommen zu mir, weil sie wissen, was ich kann und weil sie das in Deckung mit dem bringen, was sie ändern wollen. Das ist mindestens anfänglich ein Konflikt. Keiner weiß, wie und wobei der Coach helfen kann und der Coach kann seine Dienstleistung nicht “pushen”.

Während ich also als Berater gerufen wurde, wenn der Kunde wirklich ein Problem lösen will und dann eher impulsartige Einsätze hatte, ist nun meine Aufgabe und mein Einsatzgebiet erstmal relativ unspezifisch. Sicherlich ist klar, dass ich sowohl Organisation als auch Teams und Personen dabei unterstütze, das Agile Mindset in der täglichen Arbeit und strategisch umzusetzen, aber das ist ja noch ziemlich abstrakt… Und wenn ich täglich darauf achte, inwieweit dieses Mindset umgesetzt wird, dann fallen mir natürlich auch viele Stellen mit Potenzial auf. Und nun wird es spannend, denn jetzt passiert ersteinmal folgendes:

Nix.

Das ganze System hat sich mit dem aktuellen Zustand abgefunden und lebt in und mit ihm. Der “Pull”, wie er früher als Berater auf mich zugekommen ist, bleibt aus. Wenige wollen und/oder können etwas ändern. Resignation, Gewöhnung, sich Arrangieren, Workarounds und natürlich der blinde Fleck. Dieser Fleck ist inhärent mit der Kultur der Firma verbunden, sie hat ihn erschaffen. Er resultiert in einer Blindheit gegenüber den Schwachstellen des Systems, das alle zusammen geschaffen haben und täglich lebendig halten.

Was tun?

Ein Coach mit einem erhobenen Zeigefinger, ist kein Coach. Ein Coach, der auf dem blinden Fleck rumdrückt, verursacht erstmal nur Schmerzen und so gar kein “Pull”. Hier könnten zwei Sachen helfen. Tun sie aber konkret auch nicht. Erstens geht es der Firma wirtschaftlich gut und das Geschäftsmodell funktioniert. So ist keine Not vorhanden, die zur Veränderung zwingt. Zweitens wird vom Management kein Druck aufgebaut, was durchaus gewollt ist und schon mal eine wesentliche Vorraussetzung für eine Agile Organisation ist. Über diese beiden Fakten bin ich froh und will sie gar nicht ändern.

Was tun?

Da gäbe es ja noch das Mittel der Begeisterung: Die Führung gibt dabei den Sinn des Tuns und eine grobe Richtung vor und reißt dadurch die Mitarbeiter mit. Große Ziele realistisch definieren, einfordern und lebendig halten und Erfolge transparent machen und feiern. Das ist hier mal einfach aufgeschrieben, schafft aber in letzter Konsequenz keiner in der Firma. Und das verstehe ich.

Was tun?

In der echten Welt (in Abgrenzung zu idealen “Berater-Welten”, wie ich sie mir vorher gemalt habe) läuft es langsamer und vielfältiger. Veränderung passiert täglich und überall und sehr langsam. Es hilft nichts, Probleme, die erstmal nur ich sehe, mit Lösungen zu versehen. Denn dadurch verbrennen die Lösungen und mein Ansehen als Agile Coach sinkt.

Was hilft, ist,…

  • sich geduldig auf die Geschwindigkeit einzulassen. Verhaltensänderung ohne Dringlichkeit braucht eben Zeit.
  • manchmal ein Stück in eine falsche Richtung mit zu rennen, um danach entschlossen festzustellen, dass es die falsche Richtung war. Dann beim Umsteuern unterstützen.
  • Tendenzen und unerwünschte Folgen heutigen Verhaltens aufzeigen.
  • auf dem schmalen Grad hartnäckig zwischen Penetranz und Akzeptanz zu wandeln, um so im täglichen kleine, feine Impulse zu geben.
  • sich mit gleichgesinnten Kollegen zu überlegen, wie wir das System am Leben halten, dass wir erschaffen haben und das wir nicht mögen. Und wie wir Abhilfe schaffen können.
  • sich mit anderen Agile Coaches austauschen, um zu sehen, dass es völlig normal ist, wie es ist.
  • das Agile Mindset vorzuleben.
  • am Ball zu bleiben, inwieweit sich die Erkenntnisse zu einer neuen Arbeitswelt (wobei Agilität hier der Name in der IT dafür ist) ändern.
  • heutige Probleme zu verstehen, zu lösen und dadurch Vertrauen zu gewinnen. Dabei üben: Lösungslosigkeit aushalten
  • die Aufgaben als Agile Coach weiter für alle fassbarer zu bekommen und das Erreichte allen transparent zu machen.
  • einen guten Draht zur Führung zu haben. Denn Führung kann (und sollte) Erwartungen an Mitarbeiter und Prozesse vorgeben (“Push”). Dadurch fragt dann im Idealfall das System (Person, Team, Organisation) dann die Hilfe eines Agile Coachs an (“Pull”). Wir nennen es auch das “Push/Pull-Prinzip”.
  • in einer Firma zu arbeiten, die einen das alles machen lässt. DANKE!

Foto: Guenter Hamich, „Leise gewordener Lautsprecher“, Quelle: www.pixelio.de