Sharing is caring. Sagt man. Ich bin skeptisch. Aber wenn Kollegen um Veröffentlichung bitten. Also gut. Hier meine bisher interne Geschichte vom Hinfallen und Wiederaufstehen.

03.09.2018 Hinfallen Warum der Männerspagat sich – zumindest bei mir selbst – nicht durchgesetzt hat.

Wir sind nun wirklich in Berlin angekommen. Nach nur 9 Monaten Immobiliensuche sind wir letztes Wochenende in unsere neue Wohnung eingezogen. Und wie das so ist, gibt es dann natürlich viel zu tun und aufzubauen. Nach dem Geheimtipp „Verkaufsoffener Sonntag bei IKEA“ gab es gestern noch die Lieferung von den Baumarktfreunden von Hellweg. Loungeecke für draußen. IKEA lief super, die Lounge war dann nicht so gut. Also nicht die Lounge, sondern der Aufbau.

Am Nachmittag alleine in der Wohnung. Ein Fuß auf der Terrasse, der andere auf dem frisch geölten Parkett. Weggerutscht und beim ungewollten Spagat das Oberschenkelgelenk herausgebrochen. Pipkin IV Fraktur. Nicht so gut. Und viele Geschichten für die Enkelkinder. Mit der Apple Watch am Handgelenk den Notarzt gerufen. Bewegungsunfähig. Vollnarkose schon zu Hause und sechs Feuerwehrleute mit Vakuummatratze durchs Treppenhaus. An so ziemlich allen Kindern bei uns im Haus vorbei in einen der drei Wagen mit Blaulicht. Und zum ersten Mal in meinem Leben vor einem wichtigen Termin ausgeknockt. Ich hoffe ja noch auf EUROPACE Konferenz mit Krücken oder Rollstuhl. Kopf und Mundwerk sind schließlich unversehrt. Die, dich mich kennen, wissen, dass ich mit umso mehr Energie ausgestattet bin, je mehr Menschen um mich rum sind. Allerdings werden es davor wohl erst mal sechs Tage Klinik mit nur einem Bettnachbarn sein.

Mein Kollege Thomas kommt heute vorbei. Wir besprechen dann mal, wie wir das mit dem Keynotevortrag machen. Ich hoffe, ich kann ihn dabei unterstützen. Mein erstes Learning? Mein Spagat reicht noch nicht.

10.09.2018 Liegenbleiben Fehlstart oder “Warum nicht mal Rückenschwimmen?

So. Mist. Die wollen mich nicht gehen lassen. Nachdem ich heute mit den Stationsschwestern die Klinik auf Selbstorganisation umgestellt habe und alle auf https://welcome.europace.de/ nach Jobs gegoogelt haben, bleibe ich jetzt doch noch ein Weilchen. Außerdem hat jemand heute das erste Mal die Terrasse fluchend, feucht gewischt. Das möchte ich anerkennend würdigen und noch etwas draußen herumsitzen. Ach ja: und der Chefarzt meinte, eine zweite Operation heute Nachmittag wäre eigentlich auch nicht doof. Nun gut. Demut gehört ja bekanntlich zu meiner DNA. In diesem Sinne tolle Tage. Ich versuche derweil weiter mich auf den Bauch herum zu drehen. Käferstyle.

15.09.2018 Aufrappeln Moderner Fünfkampf oder „Wie ich ein Marmeladebrot über Kopf schmieren lernte”.

Hm. Immer noch hier. Nach der zweiten Operation kann ich noch besser nachvollziehen, was Jeff Bezos mit „it´s still day one” meinte. Einmal zurück in die Realität und wegen einem bösen Bluterguss im Operationsbereich zur Bewegungslosigkeit verdammt. Fünf Tage hat es dann doch wieder gedauert, bis ich das erste Mal auf dem Balkon sitze und das MacBook auf den Beinen liegen habe. Vier Tage um sich mit Hilfe eines Physiotherapeuten auf den Bauch zu drehen! Ein unglaubliches Gefühl. Nach drei Tagen endlich das erste Mal im Sitzen Essen. Am zweiten Tag nach der zweiten Operation immerhin ein paar Ziele im Umfeld von, na sagen wir, hygienischen Themen erreicht und am Tag eins erfahren, dass Milchreis zur Not auch über Kopf gelöffelt werden kann.

Naja. Montag oder Dienstag werde ich Entlassen. Bin schon gespannt, welche neuen Herausforderungen auf mich warten. Mein Aufsichtsratschef kommt gleich zu Besuch und ich spüre die Vorfreude Euch alle wiederzusehen. Der Durchmesser des Zimmers wird langsam zu klein. Naja. Als Kassenpatient gibt es halt keine Suite.

Ach ja: Inzwischen ist die Zahl der morgendlichen Marmeladebrote auf drei angestiegen. Und der Skill „Überkopfschmieren, da nicht Aufsitzen können” verliert langsam wieder an Bedeutung.

14.11.2018 Reisen Handicap erleben und Sinne schärfen. Reisen mit Beeinträchtigung

Ich bin allein unterwegs. Das erste Mal nach der Klinik. Mit Rucksack, Krücken und im Flugzeug. Easyjet Berlin spendiert mir “Speedy Boarding” in Terminal C. Cool denke ich und sitze glatt als erster im Bus. Nur 20 Minuten später speedyboarde ich dann mit allen anderen im Regen auf der Gangway.

Kurz zuvor am Security Check werden die Krücken geröntgt. Ohne mich. Ich stehe auf einem Beim den MacBook auspackend vor einer Gruppe wartender Anzugträger. Noch sehr instabil. Also nicht die Anzugträger. Nach gut zwei Minuten sind die Krücken zurück, um dann mit mir durch den fiependen Scanner zu gehen. Schön, dass alle gut gelaunt sind und der nette Security Mann mich freundlich nochmal manuell abtastet. Schuhsohle heben klappt allerdings nur einseitig. Stört in Berlin aber keinen.

Im Flieger dann mein erster Irrtum. Der Platz in der ersten Reihe, den ich gebucht habe, funktioniert nicht. Notausgang. Und da darf ich nicht hin. Also nix mit viel Fußraum. Mist. Die Mitarbeiter finden trotzdem eine Lösung auf der anderen Seite und setzen einige Passiere um. Irgendwie klappt das schon. Sitze zwar ein wenig verkrampft vor der Trennwand zur Crew und habe ein schlechtes Gewissen, dass einige wegen mir Umsetzen mussten. Aber immerhin: es passt.

Der zweite Irrtum dann auf dem Rückweg mit Lufthansa. Nicht mehr Reihe 1, sondern 16. Und der Gang ist plötzlich erstaunlich schmal. Seitlich mit Rucksack lerne ich känguruhgleich durch den vollen Flieger zu hüpfen. Die Krücken verstaue ich diesmal selbst. Keine Crew hier im Gedränge. Beim Aussteigen versuche ich die übliche Hektik eines Geschäftsfliegers mitzugehen, bis ich beim Versuch die gut 140cm langen Krücken zügig aus der Ablage zu ziehen einen Strike im Flieger abräume.

Sicherheit geht vor. Und so fehlt den Münchner Security Kollegen die Lässigkeit zuvor in Berlin. Hier wird auf jeden Fall auch die Schuhsohle gescannt. Der Hocker, den sie mir dafür bringen hat den Durchmesser eines kleinen Beilagensalats. Mit viel weniger Muskulatur am Hintern sitze ich trotzdem erstaunlich stabil.

Nach der Landung in Berlin eine kleine Aufmerksamkeit der Lufthansa Crew. Zuvor trotz vollen Fliegers und der sperrigen Krücken kein Sitzplatz in der komplett leeren Business Class, aber ein Rollstuhl ans Berliner Gate bestellt. Ich fühle mich aufmerksam umsorgt. Allerdings verzichte ich. 30 Meter zum Taxi? Das geht allein. Ich erinnere mich dabei an das Terminal 2 in München, wo ich um 5:30 Uhr morgens an den automatisierten Economy CheckIn Terminals noch niemanden nach einem kleinen Buggy fragen konnte und dann etwa 15 Minuten zum Gate gelaufen bin. Ging auch irgendwie.

Wenn ich im Nachhinein auf die Flugreise schaue, dann ist mir viel klarer geworden, wie schwierig manche Dinge für Menschen mit Handicap sein können. Und ich habe sicher nur einen kleinen Teil davon selbst erlebt. Das macht nachdenklich. Sehr.

21.12.2018 Retreat Mondlandung 2.0 oder Gute Nachrichten aus der Physiotherapie zum Jahresende

Falls meine liebe Frau gehofft hat, dass Sie in unserem ersten gemeinsamen „Wellness auf Krücken” – Urlaub einige Ihrer neu erworbenen Rollen wie Krankenschwester, Servicefachkraft und Stationsleitung im Krankenhaus ablegen kann, musste ich sie enttäuschen. Nach wie vor erscheint mir die Fähigkeit, einen gefüllten Teller unfallfrei vom Buffet zum Tisch tragen, soweit weg wie eine neue Apollo Mission zur Mondlandung.

Immerhin hab ich einen Weg gefunden, ein Tiroler Schwitzbad mit Krücken zu besuchen. Musste nur lernen, dass ich ohne eine slapstickartige Einlage nicht auf die höheren Sitzbänke komme. Naja. Immerhin „ground floor”. Und scheinbar sind die Krücken vollständig aus Aluminium. Werden zwar nach 12 Minuten bei 90 Grad megawarm, lassen sich davon aber offensichtlich nicht nachhaltig beeindrucken. Ich warte immer noch darauf, dass der Mechanismus mit der Größeneinstellung den Geist aufgibt. Sicherheitshalber hab ich keine Ersatzkrücken mitgenommen. Fühlt sich ein bisschen wie eine Teenager-Mutprobe an.

Und dann kam vorgestern Julia. Julia ist Physiotherapeutin und hatte gute Nachrichten dabei. Nach einer Runde, mit der Nervosität einer ersten Schulstunde, um eine Massageliege gehopst kam der wundervolle Satz: „Und Du hattest ernsthaft noch keine einzige Therapiestunde? Das sieht schon ziemlich gut aus!“. Damit meinte sie wohl, dass ich mir keine Hüftfehlstellung eingefangen habe. Seit der Zeit mit Julia weiß ich auch, dass ich wieder Liegestützen machen darf. Wenn mich also jemand im Büro dabei erwischt. Therapeutische Gründe…

Ach ja. Wir reisen jetzt mit einer analogen Waage durch die Welt. Darf mit 35kg drauftreten. Interessantes Gefühl. Der Körper sagt easy. Der Kopf no way! Könnte ich also glatt auch in unseren internen Slackchannel #ep_washabeichgelernt posten. Schöne Weihnachten!

20.01.2019 Aufgestanden Purpose and Leadership oder zwei Tage im Spreewald mit Tiefgründigkeit, Wiederaufstand und Weitblick.

Zuerst mal zum Wiederaufstand. Wenn ich im Spreewald das Ziel mitgenommen hätte, die Krücken in einem kleinen Tagungsraum möglichst oft in den Weg zu legen, ich hätte nicht nur einen Pokal mit nach Hause nehmen können. Warum die so oft im Weg lagen? Es läuft oder sagen wir besser es hinkt souverän durch die Gegend. Meine Frau zuhause ist noch immer geflasht darüber. Bei mir fühlt sich es eher an nach “Wie denn sonst?”.

Auf die Frage, wie 2018 beruflich war, habe ich heute Morgen bei Freunden geantwortet: “Cool. Tolles Jahr. Waren bei EUROPACE super erfolgreich und sind auf einem guten Weg. Gerade zwei Tage auf Workshop mit Menschen aus dem Unternehmen zusammen und mit großer Tiefe uns sehr nahe gekommen”. Die Antwort hat Irritation ausgelöst: “Und der Unfall?”

Ich hab da eine gute Erklärung für mich gefunden, warum sich der Unfall für mich nicht schlimm oder negativ anfühlt. Klar war und ist es doof, aber bis auf einige “Downs” in der Klinik, die Schwester Stefanie mit Oxycodon weggespült hat, war vor allem eines: laufend Fortschritt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Jeden Tag spürbarer Erfolg. Immer ein wenig besser und immer Feedback dazu. Das ist und war über bis heute viereinhalb Monate ein ganz geiles Geschenk.

Ich schreibe das gerade auf dem Fahrrad im McFit. Unvorstellbar vor einigen Wochen. Und das ist für 2018 eine richtig gute Nachricht. Es geht vorwärts.

Dieser Antrieb der kleinen Schritte, des Immerweitergehens und des ständigen Fortschritts ist auch für mich bei EUROPACE ein wichtiges Zeichen für Vitalität. Ich nehme diesen Fortschritt wahr. Er macht mich zufrieden und stolz und lässt mich positiv auf 2018 zurückblicken. Und warum das so ist, ist mir nun viel klarer geworden.

Während zwei Tagen “Purpose und Leadership” habe ich für mich geschafft, meinen Antrieb, meine intrinsische Motivation, meinen “Purpose” auf den Punkt zu bringen.

“Gemeinsam erfolgreich”

Dies ist eines der vielen Ergebnisse die ich teilen will. Das treibt mich an. Treibt mich morgens aus dem Bett und ins Büro. Gemeinsam erfolgreich mit den Menschen im Unternehmen. Mit unseren Kunden und Partnern. Mit den Verbrauchern für die wir eine so wichtige Leistung liefern.

Vielleicht gilt das auch für mich und meinen verunfallten Körper. Den Weg zu gehen, zu kämpfen und zu hoffen macht mir unglaublich Spaß und treibt mich an. Privat und beruflich. Und da passt das Bild auf beiden Seiten: immer öfter ohne Krücken.

Gutes Gefühl. Der Blick nach vorne.